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Heimatfreund: „Neu-Jerusalem“ – eine Bauhaussiedlung in Teutschenthal, die deutschlandweites Aufsehen erregte

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Im Saalekreis gibt es viel zu entdecken. Zusammen mit Heimatforscher Mike Leske erkunden wir heute nicht das echte Jerusalem in Israel, sondern das in Teutschenthal, einer Gemeinde nur wenige Kilometer westlich von Halle (Saale):

 
Das Jahr 2019 steht fest im Zeichen des Bauhauses. In ganz Deutschland wird der 100. Jahrestag der Gründung dieser Bewegung als eine der bedeutendsten kulturellen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts gefeiert. In der 1919 in Weimar durch Walter Gropius gegründeten Kunstschule versuchten zahlreiche Künstler, Designer und Architekten nach den traumatischen Eindrücken des Ersten Weltkriegs mit der Neugestaltung alltäglicher Dinge einen modernen Menschen prägen. 1925 nach Dessau umgezogen und schließlich 1933 in Berlin unter dem Druck der Nationalsozialisten geschlossen, wirkt das Bauhaus weltweit bis in die Gegenwart fort. Auch in Teutschenthal hat diese Strömung ein Baudenkmal hinterlassen, das seiner Zeit deutschlandweit für Aufsehen sorgte (Abb. 1 bis 4).


Abb. 2: „Siedlung Teutschenthal, Durchblick von Süden über den Schulhof“. Aufnahme von 1929. Bild: Leske 2016, S. 100


Abb. 3: „Siedlung am Wiesenweg“, Mehrbild-Ansichtskarte Anfang der 1930er Jahre. Bild: Leske 2016, S. 99


Abb. 4: „Siedlung Teutschenthal, obere Wohnhausreihe vom Schuldach gesehen“. Aufnahme von 1929. Bild: Leske 2016, S. 102


Am 31. Mai 1929 waren zur feierlichen Einweihung des bis dahin europaweit modernsten Wohn- und Lernkomplexes innerhalb einer Landgemeinde namhafte Persönlichkeiten der Region am Wiesenweg (heute Maerkerstraße) erschienen. Die Anlage war für damalige Zeit eine absolute Neuheit und Sensation zugleich. In der Deutschen Bauzeitung wurde die Teutschenthaler Siedlung als aufsehenerregendes Vorbild gefeiert. Die „Hallischen Nachrichten“ titelten am 24. Mai 1929 mit der Überschrift „Ländliche Kulturpolitik“. In der „Berliner Illustrierten Zeitung“ vom 13. Oktober 1929 erschien ein Artikel unter dem Namen: „Eine Dorfschule über die man sich wundert“. Das „Eislebener Tageblatt“ veröffentlichte seinen Beitrag zur Teutschenthaler Siedlung unter dem Titel: „Schulweihe in Teutschenthal – ein bedeutsames Werk ländlicher Kulturbestrebungen“. Und im deutschlandweit herausgegebenen „Kränzchen – Illustriertes Mädchen-Jahrbuch“ lautete 1930 die Schlagzeile der 42. Ausgabe gar: „Deutschlands modernste Dorfschule“.
Die Einweihungsfeierlichkeitenstanden am Ende eines fast drei Jahrzehnte währenden Ringes um das Bauvorhaben. Bereits in den Jahren nach der Jahrhundertwende plante man einen Schulneubau, welcher jedoch durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verschoben werden musste. Die wirtschaftlich schwierigen Zeiten in den Nachkriegsjahren verzögerten das Projekt abermals. Erst unter Amtsvorsteher Bruno Böttge konnten die Pläne endlich angegangen werden. Zwischenkredite der Verbandssparkasse der Mansfelder Kreise und Städte in Eisleben sowie das Hauszinssteuereinkommen des staatlichen Wohnungsfürsorgefonds gewährleisteten die Finanzierung weitgehend.
Dringend notwendig wurde die Siedlung samt Schulneubau aufgrund einer Reihe gesellschaftlicher, sozialer und wirtschaftlicher Umwälzungen, welche die bis dahin landwirtschaftlich geprägten dörflichen Strukturen unserer ländlichen Heimat grundlegend und nachhaltig verändert hatten. Spätestens mit der Errichtung der Eisenbahnlinie Halle-Kassel (ab 1863) war das Zeitalter der Industrialisierung auch in Teutschenthal eingekehrt. Durch das Auffinden von reichen Braunkohlevorkommen in der Region hatten sich neue Wirtschaftszweige eröffnet. In großen Tagebauen wurde der fossile Rohstoff rund um den Ort abgebaut. Ein Großteil der Bevölkerung arbeitete zudem in den Landwirtschaftsbetrieben des Agrarunternehmers Carl Wentzel. Daneben waren neue Arbeitsplätze in der nahegelegenen Zuckerfabrik „Reußner & Co.“ (gebaut 1865) in Eisdorf, dem Kaliwerk „Krügershall“ (gegründet 1905) und dem Molybdänwerk (seit 1914) in Teutschenthal-Bahnhof sowie in den zahlreichen umliegenden Teerschwelereien entstanden. Der daraus resultierende Arbeitskräftebedarf ließ die Einwohnerzahlen geradezu explodieren. Zählte man 1846 allein in Unterteutschenthal noch 1003 Einwohner, waren es im Jahr 1900 schon 2338.
Mit den neuen Bewohnern ging ein akuter Wohnungsmangel einher. Dies wiederum führte mitunter zu katastrophalen Verhältnissen, so dass nicht selten zwei bis drei Familien in einer Unterkunft hausen mussten. Auch die gestiegenen Schülerzahlen konnten mit den zur Verfügung stehenden Bildungseinrichtungen nicht mehr bewältigt werden.
Auf der Suche nach Inspirationen und einem Konzept für das Bauvorhaben hatte eine Delegation aus Gemeindevertretern auch das thüringische Hersfeld bereist. Bei der Besichtigung des dortigen „Dreißigfamilienhauses“- einem Gebäude, dass in den Jahren 1926/27 nach den Kriterien des fortschrittlichen sozialen Wohnungsbaus geschaffenen wurde – war man auf Ernst Trommler aufmerksam geworden. Der Geraer Architekt war ein Schüler und späterer Mitarbeiter des berühmten belgischen Architekten Henry van de Velde (1863-1957). Als Vertreter des sogenannten „Neuen Bauens“ bekannte er sich zu den Prinzipien des modernen Bauwesens mit seinem stark funktionalen Charakter. Während seiner Zeit als Leiter des Architekturbüros von Thilo Schoder gestaltete Trommler die Hermsdorfer Entwürfe maßgeblich mit und empfahl sich damit für das Projekt in Unterteutschenthal. Von der Gemeindevertretung mit dem Vorhaben beauftrag, wurde unter seiner Federführung in zweijähriger Bauzeit für knapp 700.000 Reichsmark eine Wohnanlage mit integrierter Bildungseinrichtung aus dem Boden gestampft. Als Bauplatz hatte man das Areal nördlich des Wiesenwegs gewählt, einem damals vom alten Ortsbild losgelösten Gelände (Abb. 5).

Abb. 5: Die Fliegeraufnahme aus der Zeit um 1930 zeigt oben links die neue Siedlung am Wiesenweg (heute Maerkerstraße), einem damals noch vom alten Ortsbild losgelösten Gelände. Bild: Leske 2016, S. 81


30 der insgesamt 44 Wohnungen verfügten über Ofenheizungen; die übrigen 14 Wohneinheiten wurden zentral beheizt. Die Mietpreise lagen damals, abhängig von der Art der Beheizung, zwischen 31 bzw. 40 Reichsmark. Zur gemeinsamen Nutzung verfügte der Komplex über Waschräume, Wannenbäder und Trockenböden. Sämtliche Bauarbeiten und Innenausstattungen waren von Handwerkern und Firmen aus Teutschenthal und Umgebung ausgeführt worden. Eine Musterwohnung, die nach den Entwürfen Trommlers mit Möbeln für Küche, Schlaf- und Wohnzimmer eingerichtet war, sollte zukünftigen Bewohnern die Annehmlichkeiten des innovativen Wohnens vor Augen führen.
Auch das Gemeindeamt Unterteutschenthal bezog in den modernen Bauten ein neues Quartier. Anfänglich noch im Block des heutigen August-Bebel-Hofs 4 untergebracht, zog die Verwaltung recht bald in das Eckgebäude an der Maerkerstraße, Ecke August-Bebel Hof (Abb. 6) um, wo sie bis zu ihrem Auszug im Jahr 1999 verblieb.

Abb. 6: Die Teutschenthaler Gemeindeverwaltung befand bis 1999 im Eckgebäude August-Bebel-Hof, Ecke Maerkerstraße. Ansicht um 1980. Bild: Leske, S. 110


Eigentümer der Siedlung war die Gemeinnützige Siedlungsgesellschaft Unterteutschenthal GmbH. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese in Volkseigentum überführt. Ab 1994 wurden die Gebäude nach und nach an die Mieter verkauft.
Der ab 1928 im Zentrum der Siedlung errichtete Schulneubau blieb hingegen bis heute Eigentum der Gemeinde Teutschenthal (Abb. 7 und 8). Die neue Pestalozzischulekonnte nur dank der Befürwortung des preußischen Kultusministeriums umgesetzt werden. Die Lehranstalt sollte mit den Vorurteilen aufräumen, dass eine Dorfschule primitiv sei und auf dem Lande die Schweineställe besser gebaut wären als das Schulhaus.

Abb. 7: Die neue Pestalozzischule in Unterteutschenthal, Blick von Süden. Aufnahme von 1929. Bild: Leske 2016, S. 95


Abb. 8: Die neue Pestalozzischule in Unterteutschenthal, Blick von Südosten. Aufnahme von 1929. Bild: Leske 2016, S. 97


Die zweistöckige Bildungseinrichtung mit Turnhalle und zwei Schulhöfen verfügte im Kellergeschoss über eine Duschanlage mit Bassin und bot neben dem normalen Schulbetrieb auch Platz für eine Berufs- und Hauswirtschaftsschule (Abb. 9). Die Innengestaltung des Gebäudes (Abb. 10) und die Ausstattung der Klassenräume folgten dabei modernsten Konzepten: Um den Unterricht im Sinne des Reformgedankens aufzulockern, saßen die Schüler ursprünglich zu dritt an Rundtischen (Abb. 11). Da die Aufmerksamkeit unter dieser Sitzordnung zu leiden hatte, wurde diese Unterrichtsmethode nur wenige Jahre nach der Eröffnung der Schule wieder verworfen und zur konventionellen Ordnung mit Klassenbänken und Blickrichtung zur Tafel zurückgekehrt.

Abb. 9: „Schule Teutschenthal, hintere Schulansicht mit Spielhof“ Aufnahme von 1929. Bild: Leske, S. 96


Abb. 10: „Schule Teutschenthal, Treppenausschnitt“ Aufnahme von 1929. Bild: Leske, S. 104


Abb. 11: Die Ausstattung der Klassenräume folgte modernsten Konzepten. Anfänglich saßen die Schüler zu dritt an Rundtischen. Da die Aufmerksamkeit unter dieser Sitzordnung zu leiden hatte, kehrte man recht bald zur konventionellen Ordnung mit Klassenbänken und Blickrichtung zur Tafel zurückgekehrt. Aufnahme von 1929. Bild: Leske, S. 103


In den Zeiten des Zweiten Weltkriegs kam der Schulbetrieb mehr und mehr zum erliegen. Ab 1944 diente das Gebäude zeitweilig als Lazarett. Mit dem Kriegsende wurde der Unterricht wiederaufgenommen. 1959 erfolgte die Umbenennung in Polytechnische Oberschule (POS) Teutschenthal. Durch die Errichtung des Bildungskomplexes „Am Stadion“, die heutige „Würdetalschule“, endete die Nutzung des Gebäudes zu Lehrzwecken. Seit 1986 dient der Bau als Kindertagesstätte „Buration“. Bei der damit verbundenen Umgestaltung war der repräsentative Haupteingang an der Maerkerstraße vermauert wurden und der Zugang nur noch seitlich möglich. Erst im Zuge von Sanierungsarbeiten im Jahr 2014 konnte die ursprüngliche Eingangssituation wiederhergestellt werden.
Die angrenzende Turnhalle der Bildungseinrichtung diente den Schülern nicht allein für den Sportunterricht, sondern auch als Aula und Versammlungsraum (Abb. 12). Dank einer hervorragenden Akustik war der Saal auch für den Gesang- und Musikunterricht geeignet. Ferner wurde dieser auch als Zeichensaal und für Lichtbildvorträge genutzt. Da dieser 450 Plätze fassende Mehrzweckraum mit einer Bühne und Empore ausgestattet war, wurden hier auch Theaterveranstaltungen aufgeführt. Der Festraum stand nicht nur den Schülern der Pestalozzi-Schule, sondern auch den hiesigen Turnvereinen und der Theatergemeinde des Ortes zur Verfügung. Nach der Wende hatte sich hier vorübergehend ein Supermarkt eingemietet. Seit 1995 wird der Saal wieder als Theater vom „Teutschen Theaterverein Teutschenthal“ genutzt. Die ganzjährigen Veranstaltungen erfreuen sich seither auch überregionaler Beliebtheit.

Abb. 12: „Schule Teutschenthal, Blick in den Festraum“ Aufnahme von 1929. Bild: Leske, S. 105


Die modernen Bauten waren seiner Zeit nicht ganz unbestritten. Viele Kritiker verdammten die Bauhausbewegung gar als „jüdisch“ und „bolschewistisch“. Der Spottname„Neu-Jerusalem“, wie die Teutschenthaler die neue Siedlung anfänglich nannten, ist nicht nur auf deren ungewöhnlich Bauweise mit Flachdächern zurückzuführen, sondern auch ein Ausdruck zeitgeistlicher Skepsis.
Als es nach wenigen Jahren Probleme mit der Dachentwässerung gab, erhielt das Schulgebäude schon 1939 ein Satteldach mit durchgehender Gaubenreihe. In dem zusätzlichen Geschoss wurden Lehrerwohnungen eingerichtet (Abb. 13). Als auch die umliegenden Wohnblöcke zwischen 1953 und 1967 – ebenfalls infolge von eindringendem Regenwasser – mit Satteldächern aufgestockt wurden, verlor die spöttische Bezeichnung ihren Bezug und geriet allmählichin Vergessenheit. Zwar wurde durch die neuen Dächer, zum Vorteil der Bewohner, zusätzlicher Wohn- und Abstellraum geschaffen, gleichzeitig büßte die Siedlung damit aber auch ihr markantes Erscheinungsbild ein.

Abb. 13: Blick vom Gemeindebad, über den Sportplatz zur neuen Siedlung. Aufnahme Anfang der 1940er Jahre. Bild: Leske: 2016, S. 107


Der Gesamtkomplex ist bis heute unvollendet geblieben. Da man die anfängliche Planung einer vierklassigen Lehranstalt noch während der Bauphase verworfen hatte und stattdessen eine achtklassige Schule errichten ließ, waren mit der Erweiterung auch die dafür anfänglich veranschlagten Baukosten von 182.000 auf 275.000 Reichsmark gestiegen. Die Mehrkosten verhinderten den ursprünglichen Entwurf eines symmetrisch angelegten Siedlungskarees. Der östliche L-förmige Trakt mit weiteren 20 Wohneinheiten musste gestrichen werden. Stattdessen entstand in den 1930er Jahren auf dem dafür vorgesehenen Gelände an der Südostseite ein Ersatzbau. Dieses, von den Einheimischen als „langes Handtuch“ bezeichnete Mehrfamilienhaus (Abb. 14), wurde vor einigen Jahren nach langem Leerstand und wegen Baufälligkeit wieder abgerissen.Der Platz ist inzwischen durch moderne Einfamilienhäuser überbaut.

Abb. 14: Blick zur Schule von Südosten. Rechts im Bild der Ersatzneubau („Langes Handtuch“) anstelle des ursprünglich geplanten symmetrischen Siedlungskarrees an der Südostecke. Aufnahme um 1950. Bild: Leske: 2016, S. 112


Trotz der starken baulichen Überprägung in Form von Um- und Anbauten ist die Teutschenthaler Bauhaussiedlung ein Musterbespiel für den frühen sozialen Wohnungsbau auf dem Lande und steht zu Recht seit den 1980er Jahren komplett unter Denkmalschutz. Das diese Bedeutung nicht in Vergessenheit geriet, ist vor allem dem Engagement von Frau Margarethe Gerlach zu verdanken. Im Laufe der Jahre hat die Teutschenthalerin zahlreiche Abbildungen und Informationen zusammengetragen und eine Reihe von Schriften verfasst; auf denen auch dieser zusammenfassende Beitrag weitgehend basiert. Darüber hinaus präsentierte Frau Gerlach 2015 in der Bücherei Teutschenthal eine kleine Ausstellung über die Geschichte der Siedlung.
 
Mike Leske
(Stand: 21. Februar 2019)
 
Literatur:
Margarete Gerlach, Teutschenthal in alten Ansichten, Zaltbommel 1997.
Margarete Gerlach, Helmuth Gerlach: Teutschenthal in alten Ansichten, Band 3, Zaltbommel 2003.
Margarete Gerlach, 80 Jahre „Neu Jerusalem“ in Unterteutschenthal. Heimat-Jahrbuch Saalekreis 2009, Halle 2009.
Mike Leske: Schöne Grüße – Ansichtskarten und Lithografien aus Eisdorf, Teutschenthal & Teutschenthal-Bahnhof, Halle 2016.

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